DIE METHODE MERTNER: Birkenbihls Vorbild für ihre eigene Sprachen-Lernmethode

1 = Wohnhaus von Prof. Birkenbihl | 2 = Elternhaus von Vera F. Birkenbihl
3 = Grundschule am Bayernplatz | 4 = Gisela Gymnasium

Als Vera Felicitas im Sommer 1952 eingeschult wurde, herrschte in München eine große Schulraumnot. Viele der Schulen in VFBs Geburtsort Schwabing waren stark beschädigt oder mussten umfunktioniert werden. Man behalf sich zunächst notdürftig mit Behelfsbauten bzw. Baracken und in Schwabing „… handelt es sich um einen echten Notstand“, wie damals der Münchners Stadtschulrat Dr. Anton Fingerle konstatierte. Um endlich von den Provisorien im Schulbau wegzukommen, wurde Anfang 1952 vom Stadtrat u. a. beschlossen, eine neue Schule am Bayernplatz zu bauen, der am südlichen Ende des Luitpoldparks* liegt. Dieser Park wurde um 1900 als Erholungspark errichtet und nach dem beliebten Prinzregent Luitpold (1821-1912) benannt.

Vera F. Birkenbihl in der Grundschule (Reproduktion: Birkenbihl Sammlung und Archiv.
Original m Besitz der Grundschule am Bayernplatz, 80796 München)
Einführung zur „Methode Mertner“

Bereits ein Jahr später konnte das Hauptgebäude eröffnet werden – knapp zwei Kilometer von VFBs Elternhaus in der Franz-Joseph-Straße entfernt –, doch die Raumnot konnte damit bei knapp 1300 Einschulungen noch nicht behoben werden: Der Unterricht fand in Klassen mit über 40 Schülerinnen und Schülern statt und musste in Vormittags- und Nachmittagsschichten abgehalten werden. Dass sich Birkenbihl hier nicht wohl fühlte, ist bekannt und wurde von ihr immer wieder ausführlich thematisiert. Auch nach ihrem Wechsel auf das Gisela-Gymnasium am Elisabethplatz im Alter von neun Jahren (nur einen Katzensprung vom Wohnhaus entfernt) änderte sich daran nicht viel. Beispielsweise gab es 1957 ebenfalls rund 1200 Schüler am „Gisela“, die sogar in drei Schichten unterrichtet wurden; da blieb nicht viel Zeit für eine individuelle Unterrichtsbetreuung oder Förderung einzelner Schüler:innen.

Schwierigkeiten bereitete VFB damals nach eigener Aussage vor allem der Fremdsprachenunterricht, was ihren Großvater kurz vor dessem Tode dazu brachte, ihr die sog. „Methode Mertner“ – ab 1927 „System Mertner“ – von Robert Mertner (erstveröffentlicht 1919 im Münchner Verlag für zeitgemässe Sprachmethodik und anschließend in beinahe 100 Auflagen erschienen) nahezubringen. Zu den Leitgedanken seiner Englisch-Ausgabe schrieb Mertner, der mit Prof. Dr. Michael Birkenbihl über dessen Münchner Freunde Dr. phil. Rudolf Ziegler und Dr. phil. Karl Mueller bekannt war, in der Erstausgabe:

„Aufgabe und Zweck dieses Werkes ist die Übermittlung der englischen Sprache auf suggestiv-mechanischem Wege ohne Wörter-Auswendiglernen und ohne Üben grammatischer Regeln. (…) Die Methode Mertner bringt keine Lektionen, Aufgaben, Vokabeln usw., die auswendig gelernt werden müssen. Entsprechend den Ergebnissen experimenteller Psychologie, die in streng wissenschaftlicher Fassung vorliegen, wird die englische Sprache in den Kopf des Lesers verpflanzt, ohne daß ihm dieser automatische Uebertragungsprozeß zum Bewußtsein kommt. Ein solcher Vorgang ist mechanische Suggestion.“

Bereits in Mertners Wortwahl der Leitgedanken zeigen sich enge Bezüge zu der von Vera F. Birkenbihl weiterentwickelten Sprachen-Lernmethode. VFB ist nie wirklich aktiv auf die Annahme Dritter eingegangen, sie sei die Ersterfinderin ihrer Birkenbihl-Methode des Dekodierens, was beinhaltet hätte, dass sie die in den 1970er Jahren fast vergessenen Quellen hätte offenlegen müssen und die Art und Weise, wie sie diese adaptiert und verbessert hatte. Dies scheint das einzige Mal in ihrer beruflichen Karriere gewesen zu sein, dass sie Quellen zu erwähnen „vergaß“ – zugute halten muss man ihr jedoch, dass sie Mertners System und Dr. Müllers Methode vor dem Vergessen schützte und durch ihre Anwendung in der „Methode Birkenbihl“ publik machte.

Ähnlichkeiten zeigen sich beispielsweise im Mertnerschen „Übersetzetzungsbeispiel“ (Birkenbihl nannte dies „De-Kodierung“) „Goods-Train Collide“ aus einem der Mertner-Lernhefte des Jahres 1925. Weiter heißt es da: „Wer nach dieser Reform-Methode die englische (oder irgend eine andere) Sprache erwerben will, braucht nicht im Besitz besonderer Vorkenntnisse zu sein. Das einzige, was unbedingt vorausgesetzt werden muß, ist eine Fertigkeit, die wohl mit Sicherheit als allgemein vorhanden angenommen werden kann, nämlich: die wort- und schriftgemäße Beherrschung des Deutschen, also der eigenen Muttersprache. Denn die deutsche Sprache stellt das Flußbett dar, in dem die englische Sprache in das Gehirn des Deutschen übergeleitet wird. Mit anderen Worten: Aufklärung über Aussprache sowie über Sinn und Bedeutung der englischen Wörter erfolgt durch Vermittlung des Deutschen. (…)“

Aufbauend auf Mertners System entwickelte Dr. phil. Karl Mueller ab 1926 in der bayerischen Landeshauptstadt unter dem Titel „Englisch für Deutschsprechende“ eine neue (Zitat) „Standard-Methode: Spracherwerb auf suggestiver Grundlage (nach Methode Mertner)“, die vom Münchner Fremdsprachenverlag Pille & Zehner in hoher Auflage von über 500.000 Exemplaren veröffentlicht wurde. Mueller schrieb im Vorwort u. a.: „Von entscheidender Bedeutung für Erfolg und Mißerfolg beim Sprachstudium ist die Auffassung über das Wesen der Sprache und der daraus abzuleitende Weg zur Sprachaneignung. Bisher dachte man sich die menschliche Sprache als ein logisches Gebilde, als ein bloßes Wissensgebiet, das wie jedes andere wissenschaftliche Sondergebiet zu studieren, zu lehren ist. Hieraus schlossen die von einer solchen Anschauung ausgehenden Methodiker, daß man sich nur die endlosen Wortreihen sowie die grammatischen Gesetze einer Sprache einzuprägen brauche, um den ganzen verwickelten Sprachkörper in seine Gewalt zu bekommen.

In der Praxis aber haben die so angelegten Methoden fast durchwegs versagt und eine ziemliche Kraftvergeudung im Gefolge gehabt. Warum? Weil sie eben von durchaus irrigen Voraussetzungen ausgingen, insbesondere das wahre Wesen der Sprache völlig verkannten. Denn nicht aus einzelnen zusammenhanglosen Wörtern und toten Regeln bildet die Sprache ihren Bau, sie ist vielmehr eine lebendige Betätigung des menschlichen Geistes, geistiger Ausdruck, dem ein besonderer geistiger Inhalt entspricht und an dem es etwas Starres, rein Mechanisches nicht gibt. Sprache kann daher im eigentlichen Sinne des Wortes überhaupt nicht gelehrt, sie muß planmäßig entwickelt, ‚geweckt‘ werden. Und gerade die Erfahrungen beweisen ja jeden Tag tausendmal aufs Neue den grundlegenden Satz, daß bloßes Sprachwissen (d. i. Kenntnis des Begriffsmaterials und der Gesetze einer Sprache) noch lange nicht Sprachkönnen (d. i. ihre gefühlsmäßige Beherrschung) bedeutet. (…)

Diese Suggestiv-Methodire des Spracherwerbs ist nun aber keineswegs etwas, was nur beim Kinde Erfolg hätte; denn wir hören in dem Gebrauch der immer neue Wörter zu lernen. Oder nehmen wir Muttersprache kaum je auf, an, es wird jemand innerhalb des deutschen Sprachgebiets noch als Erwachsener aus dem Bereich einer Mundart in den einer anderen versetzt, vom platten Lande in die Stadt usw.: können wir nicht immer wieder auch an uns Erwachsenen wahrnehmen, wie wir in der ‚Suggestiv-Methodik‘ sprachlernend tätig sind? Warum sollten nun diese suggestiven Beeinflussungen, auf deren Wirksamkeit, wie wir sahen, in der Hauptsache die Entwicklung unserer Muttersprache zurückzuführen ist, nicht ebenso Nutzen stiften, wenn es sich um den Erwerb fremder Sprachen handelt?

Niemand von uns wird einen stichhaltigen Grund dafür angeben konnen, daß hierbei andere Voraussetzungen bestehen sollten. Die Suggestion ist eine mitbestimmende Kraft unter den Kräften, aus denen sich die Handlungen der Menschen, der Kinder wie der Erwachsenen, überhaupt ergeben. Darum wird auch die Sprachmethodik, sofern sie eine Beeinflussung des Studierenden zu geistig-praktischen Zwecken mit wissenschaftlichen Mitteln anstrebt, die Suggestion bewußt zur Geltung bringen müssen. Natürlich nicht in dem Sinne, daß die ‚Suggestiv-Methodik‘ ihre Schüler gleich den Aposteln am ersten Pfingstfeiertage durch ein Wunder in fremden Zungen reden lassen könnte. Für sie kommen nur die begrifflich im weitesten Sinne gefaßten Suggestionen in Betracht, die alle die mehr oder weniger starken Beinflussungen kennzeichnen, denen wir täglich bei vollem Bewusstsein ausgesetzt sind. Und das Wesen der suggestiven Sprachübertragung (…) besteht darin, dem Studierenden den Lehrstoff unbewußt, planvoll und anregend beizubringen, also in geschlossenen lebendigen Sprachformen und unter Ausschaltung des nervenzermürbenden Auswendiglernens von Vokabeln sowie Regeln. Es sind dies einige wesentliche Richtlinien, nach denen die vorliegende Methodik, die nach der Entwicklung des natürlichen Sprachgefühls abschnittsweise auch vernünftige Anspüche der Sprachwissenschaft befriedigt, arbeitet und ihre bisherigen Erfolge erzielt hat.“

Vera F. Birkenbihl brachte diese Ansicht, also „Studierenden den Lehrstoff unbewußt, planvoll und anregend beizubringen, also in geschlossenen lebendigen Sprachformen und unter Ausschaltung des nervenzermürbenden Auswendiglernens von Vokabeln“ auf den Punkt mit dem Leitsatz »Vokabeln pauken verboten!« Stattdessen setzte sie in der Tradition Mertners und Muellers auf ein gehirn-gerechtes Sprachenlernen, bei dem Vokabeln und Grammatik im Kontext eines Textes erlernt werden, ohne dass diese isoliert auswendig gelernt werden müssen. Und genau hier ähneln sich die beiden Methoden ganz erheblich, wie in Blick in die Lernhefte von Dr. Karl Mueller aus dem Jahre 1930 zeigt, wie man nachfolgend sehen kann.

Dekodierungsbeispiel von Dr. Karl Mueller aus dem Jahre 1930 – Birkenbihl Sammlung & Archiv

* = Der Luitpoldpark wurde um 1900 als Erholungspark errichtet und nach dem beliebten Prinzregent Luitpold (1821-1912) benannt. Auf ihm befand sich der sog. Bayernplatz , ein ovaler, mit Kastanienbäumen umgebener Bereich des Parkes zwischen Hiltensperger- und Erich-Kästner-Straße, der um 1925 entstanden war. Zuvor befanden sich dort Obstbäume und Gemüsegärten, denn im Luitpoldpark wurden die Blumenbeete nämlich ab 1914 als Kleingärten genutzt, dienten in Zeiten des 1. Weltkriegs der Selbstversorgung mit Gemüse und Obst; einige Grünflächen waren sogar zeitweise zu Viehweiden umfunktioniert worden. Der Luitpoldpark war eine Ecke Münchens, die Vera F. Birkenbihl liebte und den sie auch in ihrem autobiografisch angehauchten Buch „GESCHICHTEN & GEDICHTE – Made in USA“ beschrieb.