PROF. M. BIRKENBIHL: „Die Poesie der Gefangenen.“ [Text von 1917]

Vorgeschichte: Prof. Dr. Michael Birkenbihl wurde 1877 in der Residenzstadt Würzburg geboren, bestand im Oktober 1901 in München den ersten Abschnitt der Lehramtsprüfung für Deutsche Sprache, Geschichte und Geographie und wurde 1905 ebendort promoviert. Im höheren Schuldienst unterrichtete Birkenbihl u. a. an der Handelsakademie in München als Professor. Gegen Ende des Kaiserreichs hatte er es als Philosoph und Lehrer sowie Buchautor von Erzählungen, Novellen und Biografien und als Übersetzer zu einer gewissen Bekanntheit und zu Ansehen gebracht.

Als Buchautor schuf Prof. Birkenbihl u.a. die Novelle „Der Madonnenmaler“ (1905), „Vorwärts durch eigene Kraft. Lebensbilder berühmter Männer“ (1914), „Dämonische Novellen“ (1920) und „Novellen der Leidenschaft“ (1921). Als Übersetzer arbeitete Vera F. Birkenbihls Großvater zunächst an Hans Christian Andersens Autobiografie „Das Märchen meines Lebens“, dann übersetzte er verschiedene „Nordische Volksmärchen“. Zwischen 1908 und 1929 schrieb Prof. Birkenbihl auch Artikel und Essays für die „JUGEND – Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben“. Genau auf diese von Georg Hirth Ende 1895 in der bayerischen Metropole begründete Illustrierte geht der Ausdruck der „Jugendstils“ zurück, der als eine Gegenbewegung junger Künstler und künstlerisch arbeitenden Handwerker zum Historismus und der als seelenlos verstandenen Industrialisierung betrachtet werden kann.


Im Oktober 1917 erschien in der „JUGEND – Münchner illustrierten Wochenschrift für Kunst und Leben“ ein mehrseitiger literatur-wissenschaftlich philosophischer Text Prof. Dr. Michael Birkenbihls unter dem Titel „Die Poesie der Gefangenen“. Darin geht er auf die verschiedensten Texte ein, die ebensolche Insassen während ihrer Haft verfasst hatten. Es sei, so Birkenbihl, „… vielleicht der stärkste Beweis für den unzerstörbar Adel der menschlichen Seele …“, dass sie selbst an jenen Orten, an denen „… sie Schönheit und Lebensbejahung am meisten entbehre, im düsteren Kerker und im öden Zuchthaus …“ vom tiefen Drange bewegt sei, „… Schönheit zu empfinden und Schönheit zu schaffen.“

Die „JUGEND: Münchner illustrierte
Wochenschrift für Kunst und
Leben“ vom Oktober 1917
(Brikenbihl Sammlung Jena)

Bei Kunstdichtern überrasche dieser Umstand nicht, schreibt er, denn „… bei Ihnen war der produktive Strom zu mächtig, dass er alle Hemmungen überwand und sich siegreich zum Lichte durcharbeitete. In seinen zehn Leidensjahren auf dem Hohen Asperg hat Christian Daniel Schubart einen guten Teil seiner besten Werke geschaffen. In ergreifender Weise schildert er uns, wie der Genius zu den primitivsten Mitteln greift und das, was innerlich sich gestaltete, die Welt der Linie und der Form zu entäußern und so vor dem Untergang zu bewahren.“ – Wohl gewählte Worte; Schubart lebte im 18. Jahrhundert, war Dichter und seine historische Bedeutung erlangte er insbesondere durch seine scharf formulierten öffentlichen Schriften, die sich gegen die absolutistische Herrschaft und Dekadenz damaliger Herrschaftshäuser richtete. Mehr als ein Jahrzehnt lang war er in einem Turmverlies unter Arrest, durfte keinerlei Besuch empfangen, in den ersten Jahren war ihm das Lesen und Schreiben verboten. Makaber-tragisch war auch sein Ende, als er schnell gegraben wurde, aber nur scheintot war. Wie man später herausfand, war sein Sarg von innen völlig zerkratzt.

Weiter heißt es in dem Text aus dem vorletzten Jahr des 1. Weltkriegs – Vera F. Birkenbihls Großvater war damals 40 Jahre alt und ein sehr belesener Mann: „Mehr noch regen unser Interesse die Gedichte jenaer Ausgestoßenen, die erst die Seelenkämpfe des Strafgefängnisses zu Dichtern machten. In den bayerischen Strafanstalten erhalten die Sträflinge, wenn sie sich gut führen, ein Schreibheft, manche fertigen sich auch unbefugte Weise eins. Aus solchen Heften hat er verdiente Gefängnispfarrer Prof. Dr. Hermann Jäger eine stattliche Reihe von Gedichten herausgegeben (‚Gedichte von Verbrechern‘, Stuttgart 1905 und 1913). Internationaler und wissenschaftlicher ist Lombrosos Buch ‚Wandinschriften und Selbstbekenntnisse gefangener Verbrecher‘ (Hamburg 1899). An diese, für die Kenntnis der kriminellen Dichtung wertvollen Sammlungen, reihen sich autobiografische Schriften und die Veröffentlichungen in kriminalistischen Fachzeitschriften.

Das Stoffgebiet, das dem Verbrecher am nächsten liegt, bilden die Reflektionen über sein Gefängnis, seine Wärter und seine täglichen Beschäftigungen. Besonders die französischen und italienischen Verbrecher geben ihren Eindrücken gerne lyrische Form und tragen meist satirisch-ironischen Charakter. Aus deutschen Gedichten jener Gattung möchte ich jedes herausheben, in dem Danny Gürtler, der kürzlich verstorbene ‚König der Bohème‘ vielleicht noch einer Vorlage Verlaines den täglichen Spaziergang im Gefängnishof schildert (‚Selbsterlebnisse im Gefängnis und Irrenhaus‘, Mannheim 1912).“

Im Verlauf seiner Betrachtungen über „Die Poesie der Gefangenen“ zitiert Birkenbihl auch aus mehreren Gedichten und anderen Texten von Gefangenen. So heißt es u.a. bei dem ehemaligen Burgschauspeler Gürtler, der im April 1917 geistig umnachtet in einer Irrenanstalt verstarb:

„(…) Meine Erfahrungen sind derartig ungeheuerlich,, derart kraß, daß es wirklich nur dann möglich ist, aufklärend in dieser wichtigen Frage zu wirken, wenn man selbst am eigenem Leibe die Überhebung, den Unfehlbarkeitsdünkel, die schablonenhaft geschäftliche Behandlungsart so mancher Irrenärzte, die Seelenärzte sein sollten, kennen gelernt hat.

Haben denn die Psychiater, die mich behandelt, überhaupt eine Ahnung von meiner Psyche? Ist denn die kranke Seele ein Teil des menschlichen Organismus, den man mit mechanischen Hilfsmitteln perkutieren und auskultieren kann? Ist denn die kranke Seele durch operative Eingriffe heilbar wie etwa ein bösartiges Gewächs? Ist denn die Seele überhaupt bei jedem Menschen gleich? (…)“

Siehe hierzu auch diesen Beitrag im VE.RA-Blog von BRAIN.EVENTS.

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